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"Heute Abend nicht" - Interview über Begehren in Paarbeziehungen

"Ich berate Menschen zu mehr Nähe, Intimität und Klarheit in ihren Beziehungen: Bedürfnisse offen ansprechen, Konflikte lösen und Sexualität lustvoll erleben."
ProfilseiteWarum wird Begehren in Beziehungen oft zum Problem?
Weil Begehren etwas zeigt, das sich nicht kontrollieren lässt: Ein Wunsch. Ein Impuls. Eine Nähe. Wenn eine Person Lust spürt und zeigt – und die andere nicht (oder anders als erwartet) reagiert – entsteht schnell Spannung. Für die eine fühlt es sich an wie Ablehnung. Für die andere wie ein unausgesprochenes „Ich erwarte, dass du jetzt auch Lust hast.“ Das ist eng – für beide.
Was hilft, ist ein genauer Blick: Was meinen wir eigentlich, wenn wir über „Begehren“ sprechen?
– Lust ist ein innerer Impuls – manchmal vage, manchmal sehr konkret.
– Begehren ist Lust, die sich auf ein Gegenüber richtet.
– Erregung ist eine körperliche Reaktion – sie kann Lust begleiten, muss aber nicht.
– Nähe ist das, was zwischen zwei Menschen spürbar wird – ob mit oder ohne Körperlichkeit.
In der Sexualforschung wird zwischen spontanem und responsivem Begehren unterschieden (vgl. Rosemary Basson): Die eine Person spürt Lust wie aus dem Nichts. Ohne äußeren Anlass. Die andere erlebt Lust oft erst als Reaktion – auf Berührung, Atmosphäre, Worte. Viele kennen das erst als Antwort auf Zärtlichkeit oder Entspannung. Und das ist völlig normal.
Wenn einer Lust spürt und der andere (noch) nicht, entsteht leicht der Eindruck: Wir passen nicht zusammen. Dabei zeigen sich hier einfach zwei verschiedene Rhythmen.
Darf ich meine Lust zeigen, auch wenn mein Gegenüber vielleicht nicht darauf eingehen möchte?
Ja. Und: Es macht einen Unterschied, wie du das tust. Begehren darf sichtbar werden – ohne zu drängen. Es darf geteilt werden – ohne Bedingung. Ein möglicher Satz: „Ich will das einfach mit dir teilen – ohne dass du etwas tun musst.“
Ein Beispiel: Spät abends im Bett. Eine Person rutscht näher, legt die Hand auf den Arm der anderen.
„Ich merke gerade, wie viel Lust ich auf dich habe.“ Die andere zögert. „Ich glaube, ich bin gerade nicht in der Stimmung.“ Dann ein Satz, der Nähe hält: „Das ist völlig okay. Ich wollte es einfach teilen. Ich genieße schon, dir nah zu sein.“ Am nächsten Tag könnten die beiden noch einmal kurz sprechen: „Was war gut für dich an gestern Abend? Was hätte es dir leichter gemacht?“ So wird aus einer Szene eine Praxis: Nähe, ohne Ziel. Kontakt, ohne Forderung.
Sicherheit entsteht auch durch klare Grenzen:
– Ein Nein bleibt ein Nein – und Nähe bleibt möglich.
– Auch Lust darf unbeantwortet sein, ohne entwertet zu werden.
Was hilft Paaren, die unterschiedlich begehren?
Nicht zu denken: Wir müssen gleich ticken. Sondern: Wir dürfen verschieden sein – und trotzdem verbunden.
Was hilft: Sprachleitfäden für heikle Momente: „Ich hätte Lust – bin aber auch mit Nähe ohne Sex zufrieden.“ oder „Gerade nicht – aber vielleicht morgen. Jetzt mag ich dich einfach nur spüren.“
Alltagshilfen: Eine 0–10-Lustskala zum Check-in: „Wo bist du gerade?“; Ampelsystem (grün = ja, gerne, gelb = vielleicht - mal gucken, rot = ich möchte nicht); 10-Minuten-Annäherungszeit ohne Ziel; Wunsch-/No-Go-Liste; Termine statt spontaner Erwartung („Freitagabend wäre schön für Nähe.“)
Kontext ist wichtig: Begehren wird beeinflusst – durch Stress, Medikamente, Schlafmangel, Zyklus, unausgesprochene Konflikte. Wenn Lust ausbleibt, heißt das nicht unbedingt: „Du willst mich nicht.“ Sondern vielleicht: „Etwas anderes braucht gerade Aufmerksamkeit.“
Langfristig hilfreich ist ein bewusster Umgang mit Asymmetrie:
– Zeiten für Zärtlichkeit ohne Leistungsziel.
– Selbstbefriedigung als legitime Form der Selbstverbundenheit.
– Eindeutige Einigungen: Was wünschen wir uns? Was sind unsere Grenzen?
Und nicht zuletzt: Menschen begehren unterschiedlich – auch in ihrer Grundveranlagung. Wenn wir das anerkennen, verhindern wir Pathologisierung – und eröffnen echte Beziehung.
Wenn der Unterschied anhaltend belastet und Nähe immer wieder im Konflikt endet, kann professionelle Begleitung helfen.