Expert*innen Interviews

Emotionale Selbstregulation nach sexueller Nähe in offenen Beziehungen

Was hilft bei starken Gefühlen nach körperlicher oder emotional intensiver Begegnung außerhalb der Primärbeziehung?

Solche Reaktionen sind nicht nur nachvollziehbar, sie sind auch häufig unterschätzt. Sie betreffen nicht nur Einzelpersonen, sondern berühren das gesamte Feld offener Beziehungen: das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Verbundenheit, zwischen Selbstverantwortung und Beziehungsgestaltung.

Nach sexuellen oder emotional dichten Erfahrungen berichten viele Klient*innen von einer inneren Bewegung, die sich nicht sofort in Worte fassen lässt. Manche erleben Euphorie, andere Verwirrung, einige auch Scham oder eine unerklärliche Traurigkeit. Viele möchten diese Gefühle entweder sofort festhalten – oder schnell wieder loswerden.

Was hier geschieht, ist meist eine Mischung aus biologischer Resonanz (v. a. hormoneller Art, z. B. Oxytocin, Dopamin, Cortisol), biografischer Prägung (Bindungserfahrungen, Verletzlichkeit) und sozialer Bedeutungszuschreibung (Wer „darf“ was fühlen? Was gilt als übertrieben, was als kontrolliert?).

Gibt es deiner Erfahrung nach Unterschiede zwischen den Reaktionen von Frauen und Männern?

Ja – und diese Unterschiede sind weniger biologisch bedingt, als oft angenommen wird. Sie sind stark von geschlechtsspezifischer Sozialisation geprägt.

Viele Frauen wurden sozial darauf trainiert, sich in Beziehungen über emotionale Anschlussfähigkeit zu definieren. Viele Männer hingegen wurden früh darauf konditioniert, Nähe in sexuelle Leistung umzudeuten – oder sich in intimen Momenten nicht zu sehr "hineinziehen zu lassen". Die Reaktion auf emotionales Nachwirken kann daher Rückzug sein, Abwehr, Rationalisierung oder auch Hilflosigkeit. 

Neben der erwähnten geschlechtsspezifischen Sozialisation spielt auch der hormonelle Unterschied eine Rolle – besonders nach dem Sex. Bei Männern sorgt das Absinken von Dopamin und das Ansteigen von Prolaktin nach dem Orgasmus häufig für einen starken Entspannungsimpuls. Dieses physiologische "Abschalten" kann dazu führen, dass sie schneller abschalten, wegdämmern, sich zurückziehen – ohne das als problematisch zu empfinden. Aus körperlicher Sicht ist das nachvollziehbar. Aus Beziehungssicht jedoch kann es als emotionales Verschwinden erlebt werden – insbesondere dann, wenn das Gegenüber gerade in einem Zustand erhöhter Offenheit oder Verletzlichkeit ist.

Was ich in der therapeutischen Arbeit vermittle: Dieser Rückzug ist hormonell erklärbar – aber er hat psychologische Folgen. Und es lohnt sich, dich zu fragen:

  • Ziehe ich mich zurück, weil ich müde bin – oder weil ich emotionale Nähe nicht gut halten kann?
  • Was wäre möglich, wenn ich ein paar Minuten länger präsent bliebe – nicht nur körperlich, sondern auch innerlich?
  • Was braucht mein Gegenüber in diesem Moment – und was bin ich bereit zu geben, ohne mich selbst zu überfordern?

Es geht nicht darum, Schuld zuzuweisen oder natürliche Reaktionen zu verbieten – sondern darum, sie in Beziehung zu bringen. Wer in der Lage ist, sein eigenes Rückzugsverhalten zu reflektieren, kann einen Unterschied machen: für sich selbst, für das Gegenüber und für die Sicherheit im gesamten System.

Was rätst du Menschen, die sich mit ihren eigenen Reaktionen schwer tun – oder mit denen ihres Gegenübers?

Zunächst: Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn Nähe nachwirkt. Und es ist kein Beziehungsfehler, wenn Gefühle asymmetrisch auftauchen. Entscheidend ist, wie wir mit diesen Reaktionen umgehen lernen – individuell, paarbezogen und im größeren System.

Ich empfehle, solche Prozesse nicht zu pathologisieren („Ich bin zu anhänglich“, „Er ist beziehungsunfähig“) – sondern als Ausdruck innerer Bewegtheit zu betrachten. Wir sind Beziehungswesen. Sexualität, auch wenn sie als „casual“ geplant war, kann uns an existenzielle Fragen erinnern: Bin ich wichtig? Werde ich gesehen? Bin ich sicher – in mir und mit dir?

In meiner therapeutischen Arbeit geht es darum, genau für diese Fragen Räume zu schaffen – ohne dass daraus sofort Entscheidungen folgen müssen. Manchmal ist die wichtigste Intervention: gemeinsam aushalten, dass man berührt ist.